Dokumentation und Anerkennung informell und non-formal erworbener Kompetenzen im Web

Mit dem Beschlusses des Rates der Europäischen Union aus dem Jahr 2012, sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, „Regelungen für die Validierung des nichtformalen und des informellen Lernens — im Einklang mit ihren nationalen Gegebenheiten und Besonderheiten und nach eigenem Er­messen — bis spätestens 2018 “ einzuführen (Rat der Europäischen Union 2012, S. 3). Auch in Deutschland wird darüber diskutiert, wie diese Empfehlung umgesetzt werden kann. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema und hat im Rahmen eines aktuelles Projekts in dieser Woche dazu eingeladen, mögliche Szenarien für Deutschland zu diskutieren. Dabei haben wir in einer Arbeitsgruppe vor allem die aktuellen Entwicklung im Web aufgegriffen, wo sich informelle Praktiken der Dokumentation und Anerkennung herausbilden.

Information und Beratung (information, advice and guidance)

In der Diskussion sind wir davon ausgegangen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat ein kostenloses persönliches ePortfolio zu bekommen – beispielsweise schon mit Eintritt in die Schule – um dort ihre Kompetenzen zu sammeln. Die Information und Beratung erfolgt dabei dann im Rahmen der formalen Bildung obligatorisch. Vorstellbar wäre, dass individuelle (Schul)Leistungen dann schon obligatorisch in das ePortfolio einfließen. Aber auch außerschulische Aktivitäten könnten (fakultativ) Berücksichtigung finden.

Ein Ansatz dazu könnte die Online-Version des Europass darstellen, der auch schon eine Speicherung von Daten auf dem eigenen Rechner oder in einer Cloud ermöglicht (Dropbox, Google Drive). Interessant ist bei dem Online-Europass, dass dieser schon Verbindungen zu LinkedIn integriert. Die Verbindungen zu Klassifikationen wie ESCO bzw. Tools wie DISCO würde dabei die europäische Vergleichbarkeit unterstützen und die Beschreibung individueller Kompetenzen erleichtern.

Ermittlung (identification)

Die Ermittlung der Kompetenzen wird im Web zunehmend (halb)automatisch erfolgen. Individuelle Dokumentationen von Kompetenzen im Netz (z.B. durch Vortragsvideos, Publikationen, Diskussionsbeiträge/Kommentare) werden identifiziert und zur Integration in das ePortfolio vorgeschlagen. Darüber hinaus können aber auch Artefakte die nicht im Web sind in das ePortfolio aufgenommen werden.

Bewertung (assessment)

Die Bewertung erfolgt nicht unbedingt durch dafür bestimmte Experten, sondern vor allem durch Peers bzw. Kunden oder Nutzer individueller Angebote, die durch „Likes“, „Recommendations“ oder „Kommentare“ die individuellen Leistungen (Performanz) bewerten. Notwendig wären hier ergänzende rechtliche Regelungen, um gegen falsche Darstellungen vorgehen zu können.

Validierung (Validation)

Eine Validierung ist nicht vorgesehen, es könnten aber z.B. ergänzende valide diagnostische Online-Tests angewandt und im ePortfolio hinterlegt werden. Es wäre auch vorstellbar, dass ergänzende Tests (z.B. über Online-Simulationen) zum Nachweis von bereits dokumentierten Kompetenzen eingesetzt werden.

Zertifizierung (certification)

Die Vergabe von Zertifikaten verliert in diesem Zusammenhang an Relevanz, ist aber nicht ausgeschlossen (z.B. über Badges). Insbesondere Zertifikate angesehener Einrichtungen können als Alleinstellungsmerkmal an Bedeutung gewinnen (Differenzierung durch Einsatz ökonomischer Mittel). Auch der Vergleich mit formalen Abschlüssen würde sich nicht ausschließen und vor allem die Vergleichbarkeit (über Standards) erleichtern.

Das waren einige Ideen, die wir in diesem Zusammenhang gesammelt haben. Diese Stellen kein Wunschszenario dar, sondern eine mögliche Entwicklungslinie, die insbesondere einige aktuelle technologische Entwicklungen aufgreift.

M.E. ist es von großer Wichtigkeit, gerade den Bereich der Erfassung und Validierung von Kompetenzen nicht den „Marktmächten“ zu überlassen. Die umfassende Dokumentation individueller Kompetenzen wird ohne Frage kommen (und ist in Teilen ja auch schon da). Diese Daten sollten aber in der Hand jedes Einzelnen bleiben. Abhängigkeiten von privatwirtschaftlichen Lösungen wären fatal, auch wenn Sie als (kleinerer oder größerer) Teil zukünftiger Kompetenzerfassung wahrscheinlich sind. Je länger entsprechende Lösungsansätze von staatlicher/europäischer Seite fehlen bzw. nicht die notwendige Attraktivität besitzen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich Abhängigkeiten an vorhandenen Netzwerken etablieren. Diese Entwicklungen gilt es kritisch zu begleiten.

Quellen

Rat der Europäischen Union. (2012). Empfehlungen des Rates vom 20. Dezember 2012 zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens. Retrieved from Brüssel: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2012:398:0001:0005:DE:PDF

Comments

Nachdem es jetzt eine längere Diskussion auf Twitter gab (@tanquartEMN @wbweb_de) – in der mich noch nicht geäußert hatte – möchte ich eine Frage gerne hier im Kommentar aufgreifen: „Muss die EB/WB die Frage der Dokumentation/Anerkennung (Validierung) von Wissen/Kompetenzen im Netz aufgreifen aufgreifen?“, „Muss die EB/WB darüber forschen?“ und „Macht sich die EB/WB damit ein Stück weit zu Handlangern der Wirtschaft?“
Die Frage, ob die EB/WB darüber forschen und sich damit beschäftigen muss, lässt sich einfach beantworten: nein. Aber ich vermute es geht eher darum, ob sie sich damit beschäftigen und darüber forschen sollte. Hier würde ich eindeutig ja sagen. Warum?: Hier stellt sich Frage, was passiert wenn sie es nicht macht. Wenn es keine Reflexion über die Folgen solcher Entwicklungen gibt? Was passiert, wenn es keine Angebote der Erwachsenenbildung gibt, die den Anforderungen unterschiedlichster Zielgruppen gerecht wird und für Chancengleichheit eintritt?
Schon jetzt zeigen zahlreiche Entwicklungen Wege der Dokumentation und Anerkennung von Wissen/Kompetenzen im Netz. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Entwicklungen auch weiter voranschreiten werden. Die EB/WB wird dann mit einem Status Quo konfrontiert, an dessen Entwicklung sie gerade nicht mit ihren Interessen und Wertvorstellungen partizipiert.
Es ist m.E. eines der Kernprobleme erwachsenenpädagogischer Forschung und Praxis, dass sie zu wenig die (medien)technologischen Entwicklungen begleitet und daran mitwirkt, sondern diese (leider) immer noch zu großen Teilen ignoriert und allenfalls darauf reagiert – auch wenn mir bewußt ist, dass es eine ganze Reihe von Forscher*innen und Praktiker*innen gibt, die sich sehr intensiv damit auseinandersetzen. Sich mit den Fragen, Problemen und Tatsachen der Medienentwicklung auseinanderzusetzen bedeutet ja nicht, diesen zuzustimmen, sondern die eigenen Interessen dort einzubringen.

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