Gedankenschnipsel

Ein Zitat von Rolf Schulmeister zum Nachdenken:

Die Technik des RSS Feed, auf der das „social tagging“ beruht, bietet sichtlich Vorteile für den schnellen Zugriff auf Quellen und stellt eine effiziente Methode für die Vernetzung untereinander dar – aber diese Methode der Netzbildung hat aus sozialwissenschaftlicher Sicht auch Nachteile und birgt Risiken: Man liest die Gedankenschnipsel der Geistesverwandten in Weblogs und nimmt sich kaum noch Zeit für die umfangreichen Originale und die anspruchsvollen Monographien. Was auf diese Weise entsteht, das sind nicht wissenschaftliche Schulen wie ehedem, auch nicht echte Diskurszirkel, sondern Zitationskartelle. Neue Pseudotheorien und Mythen und Moden entstehen in einer Geschwindigkeit, der die Bildung des kritischen Geistes nicht zu folgen vermag. (S. 320-321)

Rolf Schulmeister: Der Computer enthält in sich ein Versprechen auf die Zukunft. In: Dittler et al. (2009). E-Learning: Eine Zwischenbiland. Kritischer Rückblick als Basis eines Aufbruchs. (S. 317-324). Münster: Waxmann Verlag

Comments

Wenn man „the medium is the message“ deterministisch versteht, dann denkt man vielleicht, dass das Medium bestimmt, welche Kommunikationen damit entstehen. Tut es aber nicht. Blogs- und Twittercommunities können banalste Zitationsmaschinen sein – aber ebenso auch anregende Diskurs- und Informationsgemeinschaften (beides empirisch zu beobachten). Analog: Die traditionellen Denkschulen können wunderbare theoriebildende Systeme sein – und ebenso in sich abgeschottete unbewegliche Guruzirkel mit ausgesprochenem Hang zum Dogmatismus (überall zu beobachten). Vielleicht ist es Zeit, das System Denkschule zu ergänzen mit einem anderen System der Wissens- und Wissenschaftsproduktion, für das Multiperspektivität und Boundary crossing eine Rolle spielen. Die Denkschule hat damit Probleme, schon gar, wenn sie sich (und das wiederum durchaus mit Sinn) dem Monismus verpflichtet und boundary crossing darum als Eklektizismus denunzieren muss.

Liebe Lisa
Danke für deinen passenden Kommentar. Ich denke auch, man kann die Kommunikation nicht so einfach an einem Medium festmachen (Zitierkartelle gibt es ja nicht erst seit der Web 2.0 Technologie). Ich denke, es ist ein Aspekt der Schnelligkeit enthalten: mittels der Medien ist man schneller: schneller, Gerüchte und Mythen zu verbreiten, schneller zu unterbrechen, aber auf der anderen Seite auch schneller informiert zu sein. Es kommt immer darauf an, wie man ein Medium nutzt (und da sage ich ja nichts neues 😉 )
Dennoch finde ich, dass am Aspekt der Gedankenschnipsel manchmal auch etwas wahres dran ist, vor allem auch seit dem Aufkommen von Twitter. Und: wir diskutieren doch hier auch nur über einen Schnipsel aus einem Artikel 😉

Aber ich stimme dir zu: „Vielleicht ist es Zeit, das System Denkschule zu ergänzen mit einem anderen System der Wissens- und Wissenschaftsproduktion, für das Multiperspektivität und Boundary crossing eine Rolle spielen.“

Hallo zusammen,

ich denke, Rolfs Zitat macht allem voran deutlich, dass wir den „kritischen Geist“ einfach nicht ausschalten dürfen – eben auch nicht im Umgang mit den digitalen Medien. In der Tat gibt es „Zitationskartelle“ in allen Medien – übrigens auch im Fernsehen, wo man immer diesselben „Experten“ sieht und hört, obschon es zu jedem Thema sicher eine ganze Reihe gibt. Es sind Bequemlichkeit, mitunter aber auch Zeitnot und ganz gewiss manchmal der Wunsch nach Definitionsmacht, was dazu führt, dass der kritische Geist ganz schnell ins Wanken gerät – im virtuellen wie im physischen Raum.

Gabi

Ich tue Rolf Schulmeister jetzt wahrscheinlich Unrecht, weil ich auch auf dieses kurze Zitat Bezug nehme, ohne den gesamten Kontext zu kennen. Aber für jemanden, der den Apologeten der „net generation“ vor allem fehlende Empirie und begriffliche Unschärfe entgegenhält, stellt er hier in lockerer Folge eine Reihe von Behauptungen auf, allesamt Annahmen, die sympathisch klingen, aber schwer zu überprüfen sind.

Aber ein anderer Punkt ist mir wichtiger: Die „echten Diskurszirkel“, in denen sich ehedem „kritischer Geist“ herausbildete, waren „geschlossene Veranstaltungen“, wissenschaftliche Schulen halt, die an bestimmten Orten (Hochschulen, Kongressen, Fachzeitschriften) den Gedankenaustausch pflegten. Ich weiß nicht, ob uns dieses Bild hilft, im hier und jetzt kritisches Denken und Kompetenz zu entwickeln. Ein Plädoyer für „umfangreiche Originale“ und „anspruchsvolle Monographien“?

Ich sehe heute vor allem, dass mehr Menschen als „ehedem“ die Möglichkeit haben, an diesem Diskurs teilzunehmen. Und dass es einfacher ist, sich über neue Entwicklungen zu informieren. Dazu tragen RSS, Tags, Twitter und Blogs wesentlich bei. Der Diskurs, der auf diese Weise entsteht, ist ein anderer. Er stellt uns sicher nicht immer zufrieden, und Geschwindigkeit, Qualität und Orientierung sind Punkte, die uns noch lange beschäftigen werden. Aber erst einmal freue ich mich, dass Monographien wie die von Waxmann online verfügbar sind und werde versuchen, mir auch den Kontext des obigen Zitats zu erschließen.
Gruß, JR

Ich denke der Rolf Schulmeister hat intuitiv den Kern der Sache dennoch perfekt damit getroffen indem er sagt:

«Der Computer besteht nicht aus dem was er ist, sondern aus dem, was er werden wird.»

Also das erscheint mir fast wie ein Sonneblumenkern, der ist zwar irgendwie schon auch was er ist (ein Kern eben), aber er wird dennoch etwas ganz anderes (oft wunderschönes), wenn man ihn in die Erde packt.

Oder anders gesagt (ich zitiere mcih mal selbst aus einem meiner letzten Blog-Posts):

[…] wenn Hochschulen sich auf das “e-Learning” der Vergangenheit konzentrieren ohne das mitzudenken, was der Computer in 5 oder 10 Jahren hervorzaubert/werden kann, dann wird jeder Ansatz zu Lernen mit Technologie immer hinterherhinken und damit bereits obsolet sein, bevor er es überhaupt in die Unistrukturen schafft.

meine 2 Cents dazu. 🙂

Lieber Jochen, lieber Helge

Vielen Dank für Eure spannenden Kommentare. Ich denke, dass es Teil einer Umbruchszeit ist, in der wir mittels Technologie leben, sich auch diese immer neuen Formen zu erschliessen.
Und da gibt es aus meiner Sicht mehrere Wege:d
– zum einen überträgt man bisherige Konzepte auf neue Technologien (und merkt dann irgendwann vielleicht, dass es so nicht mehr geht und man sich auch konzeptionell weiterentwickeln muss, siehe der Sonnenblumenkern von Helge), oder
– man setzt euphorisch auf jede neue Technologie und rennt so immer dem neuesten Trend nach, oder
– man klammert sich an das, was man bisher kannte bzw. glorifiziert eine Vergangenheit, die es so auch nicht mehr gibt und begegnet so neuen Veränderungen zum Teil sehr/zu kritisch.

Was aber alle drei Richtungen meines Erachtens nach schaffen ist es, einen Diskurs anzuregen und darüber nachzudenken, welche Effekte eine neue Technologie eben auch in die Gesellschaft hat, sei es nun begrenzt auf die Hochschule und deren akademische Diskurse oder aber auf z.B. Berichterstattung und die Frage nach der Wahrheit (z.B. im Iran).
Und um diesen Diskurs anzuregen, braucht es auch die kritischen Geister, auch wenn sie manchmal den Euphoristen wie Sand im Getriebe vorkommen.

Ich bin von der Differenziertheit der Diskussion beeindruckt.
Dennoch möchte ich einen Satz hier mit einbringen, der mich überzeugt hat:
Wir sollten nicht versuchen, die SuS auf die „Welt von morgen“ hin vorzubereiten, weil wir die nicht kennen, sondern immer nur extrapolieren (mit den entsprechenden standpunktbedingten Fehlermöglichkeiten), wir sollten ihnen in der „Welt von heute“ helfen, dass sie die für sie (!) (und gar nicht so selten ist es der Fall, dass ihnen ein Computer mit Internetanschluss nur in der Schule zur Verfügung steht) vorhandenen Möglichkeiten nutzen können, so viel wie möglich zu lernen. Dann helfen wir ihnen da und zu dem Zeitpunkt, wo sie Hilfe brauchen. Wie sie mit der „Welt von morgen“ zurechtkommen, müssen sie sehen, wenn sie da ist. Dafür über wir mit ihnen eigenverantwortliches Lernen ein.

Da muss ich Fontanefan zustimmen: Lernen ist immer Lernen in der Gegenwart, unter den kulturhistorischen Bedingungen der Gegenwart, mit den Mitteln der Gegenwart und für die Gegenwart. Es geht gar nicht anders. Lernen „für die Zukunft“ ist eine Illusion. Eine „Zukunftsfähigkeit“ des Lernens könnte allenfalls darin bestehen, die bestmöglichen Bedingungen und Mittel dafür bereitzustellen. So gesehen ist jedoch Uruguay mit OLPC mglw schon besser dran als wir mit dem 1 Netzzugang im Klassenraum.

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