Kopiertes Wissen

Thorsen Lorenz widmet sich in seinem lesenswertem Artikel einem Medium, das nie in der E-Learning Diskussion beachtet wird – dem Kopierer.
Dabei hat der «blinde Fleck» der (Medien)pädagogik aber enorme Auswirkungen auf Bildungsprozesse. Was für mich neu war, war die ursprüngliche Bedeutung von Kopie, denn „Kopie heisst im präzisen Sinne nicht Reproduktion, sondern Zusammenstellung von disparaten Informations-Teilen, Bruchstücken“ (S. 4). Dazu entwickelt er einige interessante Thesen:

Mit der Kopie stirbt die Kultur der Exzerpte. Keine Zusammenfassungen, keine Verdingungen, sondern Hervorhebungen. Keine Paraphrasen, sondern Farbunderlays mit Textlinern. Keine Sprachbildung, sondern Textkopien. (S. 6)

Das hört sich auf den ersten Blick sehr pesimistisch an. Der Artikel schwankt dann auch immer zwischen einer Bildungsdiskussion auf der einen und einer Verdammung von Computertechnik auf der anderen Seite. Allerdings haben die hervorgebrachten Argumente eine Evidenz, die immer wieder aufbricht, sei es bei der Diskussion um Plagiate (z.B. hier), sei es bei der Diskussion um die Erzeugung von Informationen, die kein neues Wissen mehr erhalten, sondern selbstreferentiell durch das Netz geistern. Was jedoch für mich die stärkste Aussage des Artikels ist:

Der Essay und sein Herzstück, die Kritik, stirbt, die modularen Bestandteile werden unsichtbar und autorlos am Bildschirm aneinander gereiht. […] Heute werden Schüler nicht mehr zu Autoren, sondern zu Verarbeitern von Kopien – ob an Hardcopys oder an Bildschirmen. […] Vor dem Bildschirm könne man sich nicht mehr kritisch verhalten (S. 7/8)

Ich bin nicht der Meinung, dass die Kritikfähigkeit dadurch sinkt. Es sinkt die technische Machbarkeit, und oft siegt m.E. nach die Einfachheit des copy&paste. Aber genau hier muss m.E. nach ein Konzept von Medienkompetenz starten, das auch explizit Medienkritik im Auge hat. Dies hängt jedoch auch von den Lehrenden ab. Wenn man Aufgaben erreichen kann, in denen es reicht, einfach gute Aussagen per copy&paste hintereinander zu fügen, dann stimmt im gesamten Prozess etwas nicht. Immer wichtiger wird die Kompetenz, einen Text auch logisch aufzubauen und argumentativ seine Thesen zu stützen. Und dieser Punkt ist meines Erachtens im heutigen Bildungssystem noch deutlich unterrepräsentiert. Was macht eigentlich eine gute Argumentation aus, was zeigt, dass sich der Autor kritisch mit einem Text beschäftigt resp. einen Text erstellt? Hier muss meines Erachtens nach ein grosser Schritt noch getan werden.Alles in allem bietet der Artikel aber einige Denkansätze, die in der heutigen Diskussion aktueller denn je erscheinen.

Quelle: Lorenz, T. (2006). Kopiertes Wissen: Das Verschwinden der Bildung im Zeitalter von Copy & Paste. Ein Essay

Abstract: Seit einigen Jahren findet ein spannender, aber nicht leicht einsehbarer Machtkampf im Bildungsbereich statt. Etwas vereinfacht gesagt stehen auf der einen Seite die Massen(bildungs)medien mit ihren vermeintlich generalisierten, hochstandardisierten, linearisierten Formen des Lernens. Auf der anderen Seite drängen zunehmend Individualmedien, die man heute lerntheoretisch gerne mit dem Begriff der Selbstorganisation des Lerners assoziiert. Der Mainstream lautet: Die neuen Medien-Technologien unterstützen Bildungssysteme, gerade weil sie den Lerner, den Lernvorgang, die Wissensaneignung individuell, persönlich, emphatisch gesagt human gestalten. Die Kränkung, an Massenmedien produktions- und sendetechnisch nicht teilhaben zu dürfen, wird so elegant kompensiert. Dies geschieht auf janusköpfige Weise. Massenmedien werden medienpädagogisch beobachtet, Individualtechnologien aber setzt man ein und versieht sie mit einer Mediendidaktik.