«Recht auf Bildung»

In meinem Urlaub habe ich die Veranstaltung «Recht auf Bildung – Diskussion mit Vernor Muñoz» am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin besucht.

Vernor Muñoz besuchte 2006 im Auftrag der UNO Deutschland, um den Grad der Verwirklichung des Rechts auf Bildung in Deutschland zu untersuchen. Er nahm Einblick in Schulen und andere pädagogische Einrichtungen und traf auf Interessenvertreter der Zivilgesellschaft. Im Februar 2007 legte er der UNO seinen Abschlussbericht vor.

Es diskutierten an diesem Abend Prof. Vernor Muñoz, Sonderberichterstatter der UN; Prof. Jutta Allmendinger Ph.D., WZB; Marianne Demmer, stellv. Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; Prof. Dr. Annedore Prengel, Universität Potsdam und Prof. Dr. Bernd Overwien, TU Berlin, beide Herausgeber des Bandes „Recht auf Bildung“.

Für Vernor Muñoz stellte klar, dass der Ausgangspunkt für seinen Bericht (der hier in englisch und deutsch nachlesbar ist), vor allem die Menschenrechte sind. Für ihn ging es nicht primär um eine Bewertung des Bildungs- und Erziehungssystems, sondern viel weitgreifender um menschliche Entwicklung, um die Verstärkung der menschlichen Fähigkeiten durch Bildung, letztendlich um Menschenwürde. Aber es geht nicht nur darum, nun allen Menschen nun den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, denn der alleinige Zugang zu Bildung ist noch keine Garantie für irgendetwas. Es geht um das System als ganzes. Das Recht auf Bildung ist für ihn aus dem Grund herausragend, da es eine Art «Domino-Effekt» auf alle anderen Menschenrechte gibt. Bei der Verweigerung des Rechts auf Bildung hat dies Auswirkungen auf andere Rechte, z.B. würden gebildete Frauen weniger Opfer häuslicher Gewalt, usw.

Bisher wurde in Deutschland zuwenig die bisherige Bildungspraxis hinterfragt, auch PISA et al. sind keine Analysen des Bildungssystems, sondern messen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Das Ziel lautet für ihn: Forschung und Untersuchung des deutschen Bildungssystems – dies sollte in der nächsten Zeit verstärkt und jenseits aller politischen Debatten geschehen.

Wichtigste Passagen des Berichts von Muñoz sind für mich:

  • Der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die zu einer Hochschulzugangsberechtigung führen, ist geringer als der OECD-Durschnitt: 39% in Deutschland vs. 49% OECD-Durchschnitt
  • Die Vorschulbildung wird nicht als Teil des Schulsystems gesehen.
  • Das Schulsystem ist mind. dreigliedrig und hochselektiv
  • In Pisa 2006 zeigte sich ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb: Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund liegen deutlich unterhalb des Durchschnitts

Ein grosses Thema des Berichts ist die Diskriminierung von Schülerinnen und Schülern durch die Selektion des deutschen Bildungssystem. Doch diese Selektion betrifft nicht nur Unterteilung in unterschiedliche Schulformen, sondern wirkt viel weitgreifender. Frau Allmendinger stellte die Ergebnisse der neuesten HIS-Studie vor, mit u.a. folgendem Ergebnis:

Von 100 Akademikerkindern schaffen 83 den Hochschulzugang, dagegen nur 23 von 100 Kindern aus Familien ohne akademische Tradition. Kinder aus Beamtenfamilien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat, haben eine fünfeinhalb Mal so hohe Studierchance wie Kinder aus Arbeiterfamilien. (Quelle)

Zu Recht merkt sie an, dass man über viele Dinge des Bildungsreports kritisch diskutieren kann (über die Methodik, die Auswahl der Schulen usw.) aber über was man nicht diskutieren kann, sind die Ergebnisse des Berichts, denn diese decken sich auch mit empirischen Studien.

Ein Problem ist nach Meinung der Diskutanten die Lehrerbildung, die immer noch zu sehr der Disziplin und zuwenig auf die Pädagogik ausgerichtet ist, und zudem für ein mehrgliedriges Schulsystem direkt ausbildet. Hier werden schon Unterschiede manifestiert – warum kann man nicht alle Lehrenden für eine Schulart ausbilden? Warum selektiert man in der Hochschulausbildung schon nach Gymnasium, Realschule und so weiter? Bemerkt wurde zu Recht: «Individuelle Förderung und ein selektives Schulsystem schließen sich aus.»

Ein weiteres großes Thema war die Integration behinderter Schülerinnen und Schüler. Dies fängt schon ganz klein an: Schulen haben meist mehrere Etagen, verbunden durch hohe Treppen. Eltern können so schon aus infrastrukturellen Gründen nicht frei entscheiden, auf welche Schule ihr Nachwuchs im Rollstuhl gehen soll, wenn die meisten Schulen nur Treppen aufweisen.
Doch nicht nur für behinderte Kinder und deren Eltern ist es schwierig, objektive Entscheidungen für die Schullaufbahn ihres Kindes zu fällen. Eltern fehlt es oft an Entscheidungskriterien, bewusst werden diese intransparent gehalten. Hier werden Eltern ein Stück weit «sprachlos» gemacht.

Bernd Overwien schnitt das Thema Internationalisierung an. In der Bildungspolitik und Erziehungwissenschaft gibt es eine mangelnde Öffnung, in der Lehrerbildung werden kaum globale Fragen diskutiert, interkulturelle Pädagogik ist für viele Lehrende immer noch ein Fremdwort. Etwas platt formuliert: Wenn man interkulturell ist, dann bedeutet dies, dass die Migranten unsere Denkweise übernehmen sollten, warum sonst hat man sich so echauffiert, dass ausgerechnet ein Costaricaner „unser tolles Bildungssystem“ zu verstehen scheint. Hier zeigt sich wieder mal der «Hang der Teutonen zum Kleinmachen» (Zitat vom Podium).

Gut zu dem Thema Bildungsgerechtigkeit passt ein Streitgespräch zwischen dem CHE-Leiter Detlef Müller-Böling und dem Berliner Schulsenator Jürgen Zöllner (hier), bei dem sich mir an der ein oder anderen Stelle die Haare stellten, aber dazu in einem späteren Posting mehr 🙂

Was mir bei beiden Quellen auffällt: Die Probleme scheinen klar, alle nicken mit dem Kopf, doch es mangelt immer wieder an Ideen zur Umsetzung. Wie kann man die Bildungsungerechtigkeit minimieren, wie können alle teilhaben? Oft wird eine mangelnde Problemlösung mal wieder auf mangelnde Finanzen oder Zuständigkeiten geschoben – wer tut wirklich was?

Dass Veränderungen auch im Kleinen möglich sind, schildert der Podcast «Eine Schule für alle?»

Unser mehrgliedriges Schulsystem funktioniert nur, wenn es für alle Schultypen genügend Schüler gibt. Was also tun? Gleiche Schulformen zusammen legen – und damit den Schülern weite Schulwege zumuten? Oder alle Schulen eines Einzugsgebietes zu einer „Schule für alle“ verschmelzen – und damit das Ende leistungshomogener Klassen einläuten? Was aber braucht es, damit starke und schwache, behinderte und nicht-behinderte, deutsche und nicht-deutsche Kinder optimal zusammen lernen können? Und was sagen Lehrer, Verbände und Bildungspolitiker dazu? (Quelle)

Wer lieber lesen statt hören will, für den gibt es hier das Manuskript zum Podcast.

Ich bin gespannt auf Reaktionen zum Thema 🙂

Comments

hi,

das was mich am meisten anspricht, war diese passage:
„Ein Problem ist nach Meinung der Diskutanten die Lehrerbildung, die immer noch zu sehr der Disziplin und zuwenig auf die Pädagogik ausgerichtet ist, und zudem für ein mehrgliedriges Schulsystem direkt ausbildet.“

ich wäre sehr stark dafür, lehrer disziplinenunabhängig auszubilden, denn damit wäre das thema fächerübergreifender unterricht m.E. weg vom tisch …

ich hoffe es bleibt nicht nur ein wunsch von mir 🙂

liebe grüße
martin

Was mir zum Thema soziale Selektion im Bildungssystem einfällt: Schon in den siebziger Jahren hatte beispielsweise eine Studie an Hamburger (Grundschulen gezeigt, dass Schulempfehlungen der Lehrer stark von der sozialen Herkunft der Schüler geprägt waren. Außerdem weiß man auch schon lange, dass die in der Schule dominierenden Wertvorstellungen und Verhaltenswertartungen mittelständischer Provenienz entstammen und damit „Arbeiterkinder“ zunächst einmal fremd sind. Auch weiß man schon lange, dass der Sprachgebrauch Schüler benachteiligen kann. Sowohl sind die Schüler aus der Arbeiterschicht den Lehrern „fremd“ als auch die Arbeiterkinder die Sprache der Lehrer in eine für sie verständliche Sprache übersetzen müssen. Dabei kann es vorkommen, dass ein Kind Sprachfiguren
des Lehrers nicht versteht.

-Tim

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