Vortrag: Implementationsforschung als Aufgabe der Empirischen Bildungsforschung

Heute sprach im Kontext der Veranstaltungsreihe „Naturwissenschaftlicher Unterricht“ der Forschergruppe & Graduiertenkolleg und Zentrum für empirische Bildungsforschung der Universität Duisburg-Essen“ Prof. Dr. Cornelia Gräsel aus Wuppertal zum für mich spannenden Thema der Implementation und Implementationsforschung. Unter dem Titel „Implementation und Implementationsforschung als Aufgaben der Empirischen Bildungsforschung“ gab sie einen guten Einblick in das Themenfeld der Verbreitung von Innovationen in pädagogischen Kontexten. Sie verstand ihr Referat dabei als Positionsreferat mit der Perspektive auf die Implementation empirischer Bildungsforschung. Im Folgenden versuche ich mal eine Zusammenfassung.

Nach einem kurzen Vergleich zwischen Transfer und Implementation kam sie darauf zu sprechen, dass die Verbreitung von Innovation im Schulbereich kein neues Thema sind, Berichte dazu gibt es schon aus den 1930er Jahren. Seit dieser Zeit wird auch immer wieder auf die Innovationsträgheit im Bildungswesen hingewiesen (Rogers & Shoemaker, 1971). Als Gründe zitierte Frau Gräsel die Gründe, die auch Spiel, Lösel & Wittman in ihrer ihrem Beitrag (Transfer psychologischer Erkenntnisse in Gesellschaft und Politik) angaben:

  • Mangel an „change agents“
  • Fehlen von ökonomischen Anreizen
  • Ansehen der Anwendungsforschung
  • Wissenschaftsferne pädagogische Professionen

Dabei kommt dem Begriff der Anwendung, der auch in der Frage der Implementation steckt, eine besondere Stellung im Bereich der Empirischen Bildungswissenschaft dar, denn dieser wird nicht einheitlich gebraucht: So gibt es in der empirischen Bildungsforschung, die als Forschungsfeld und nicht disziplinär zu verstehen ist, aufgrund dieser Heterogenität der Bezugsdisziplinen und Fachkontexte unterschiedliche Begrifflichkeiten und Bewertungen von „Anwendung“ und „Implementation“, die Grundlagendefinitionen und Forschungsideen erschweren.

Ebenso verhindert die Tradition der „Modellversuche“ mit ihren kleinen Gruppen, Einzelfällen und oft schwammigen Zielen und Aussagen bzw. der „Entwicklungsforschung“ in Deutschland die Beschäftigung mit Implementationen. Ein wenig später führte sie ihre Kritik an Modellversuchen aus: Schulen hatten in vielen Projekten (zu)viel Spielraum zur Realisierung der Projekte, es gab multidimensionale und unterdefinierte Zielstellungen sowie wenige und schwammig formulierte Outputziele. Viele empirische Studien, die post-hoc angefertigt wurden, untersuchen dann auch nicht den Implementationserfolg. Dennoch kann man oft sagen, dass eine Verbreitung von Innovation weniger stattfindet als geplant und bei unterrichtsnahen Variablen Veränderungen in der Regel geringer sind als bei unterrichtsdistalen Variable.

Ebenso werden mit der Forderung nach Anwendung oft auch außerwissenschaftliche Ansprüche an die Bildungsforschung, z.B. Politik (Qualitätsverbesserung), Administration („Steuerungswissen“), Praxis („Nutzen für die Schule“) herangetragen. Diese Aspekte führen zu einer Schwierigkeit bei der Frage nach der Implementation, die auch immer wieder gefordert wird (hier rekurrierte sie auf die Arbeiten von Gabi Reinmann und sowie Euler/Sloane).

Zur Bewertung einzelner Forschungen stellte sie nochmals die Typologie von Stokes dar:

Praxisnutzen
Erkenntnis Nein Ja
Ja Typ 1: reine Grundlagenforschung Typ II nutzeninspirierte Grundlagenforschung
Nein Typ IV keine Forschung Typ II reine Anwendungsforschung (Evaluationsforschung)

Die Schwierigkeit, vor allem des Typs II, um der es ihr ging, besteht in einer angemessenen Balance halten zwischen Wissenschaft/Theorie und Praxis

Nach dieser Einführung und Erklärungsmuster für die mangelnde Betrachtung von Anwendung in der Bildungsforschung kam Cornelia Gräsel auf die Beurteilung von Implementation zu sprechen: Was ist eigentlich eine „gelungene“ Implementation? Zählen hier quantitative Aspekte wie eine möglichst weite Ausbreitung? Oder sind es nicht auch Aspekte wie veränderte Überzeugungen und Handlungsmustern, eine Verankerung von Innovationen an Schulen (Schul- und Unterrichtskultur) oder eine große Identifikation der Beteiligten, auch über den Projektabschluss hinaus? Hier stellte sie dann die Frage, was Implementationen beeinflusst, und fasste zusammen:

1. Merkmale der Innovation selbst (Rogers, 2003)

  • relativer Vorteil gegenüber der bestehenden Praxis
  • Kohärenz/Kompatibilität
  • Geringe Komplexität, einfache Umsetzung
  • Reversibilität (“ schwierig bei Medien!!)
  • Schnelle Sichtbarkeit der Vorteile

2. Ebene der professionell Tätigen: Die Wichtigkeit der Lehrperson als Faktor der Innovation, vor allem die eingeschätzte subjektive Bedeutung der Innovation  ist eine wichtige Variable
3. Unterstützung der Schulleitung und Kooperationsstruktur an Schulen wichtig

Den Schluss ihres Vortrags bildete die Forderung nach mehrschrittigen Wirkungsstudien:

  1. Allgemeine Wirksamkeit: – experimentelle Studien: Bsp.: Ãœber alle Lernenden hinweg ist die Sprachförderung von Maßnahme 1 signitikant besser als die von Maßnahme 2
  2. ATI-Effekte: Replikationen im Feld (Interventionsforschung), Replikation von Fördermaßnahmen auf andere Felder: Hinweise auf differenzielle Wirkungen: Kinder mit guten Leistungen und hoher Motivation profitieren mehr von Maßnahme 2 als von Maßnahme 1
  3. Kontexteinflüsse: Implementationsstudien in die Breite: Maßnahme 1 wird in der Praxis unvollständig realisiert. Maßnahme 2 kann einfacher in die Praxi integriert werden. In den Ergebnissen ist Maßnahme 2 deutlich überlegen

Dabei sprach sie sich für eine evidenzbasierte Implementationsforschung aus., die sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

  • klare Festlegung der Ziele (möglichst quantifiziert: Test x um 30 Punkte)
  • Realisierung der zuvor empirisch untersuchten Maßnahmen (z.B. Trainings)
  • Messung der Wirkungen (Pre-Post-Design)
  • Rückmeldung der Ergebnisse an die Beteiligte

Dabei geht es ihr vor allem um eine Stärkung der Evidenzorientierung bei allen professionell Tätigen im Bildungsbereich (Lehrende, Forschende, Administration).

Die Diskussion im Anschluss drehte sich vor allem darum, warum es nicht gelingt, pädagogische Forschung in die Schule zu tragen. Erklärungsmuster wurden gesucht in der Wissenschaftsferne von Lehrerinnen und Lehrern, in der grossen Diskrepanz zwischen Themen, die für Forscher wichtig sind und denen, die von Lehrenden als wichtig eingesetzt werden. Ebenso ist das Spannungsfeld zwischen Praktikabilität und Forschungshintergrund wichtig, Zitat aus dem Publikum: „man muss sich auch mal die Finger schmutzig machen“.

Was ist für mich nun besonders spannend an dieser Veranstaltung? Ich finde die Forschungsbereiche, die sich auch der Integration und Verbindung von und mit Praxis nähern bzw. nach den gegenseitigen Befruchtungen von Wissenschaft und Praxis, wie beispielsweise die Entwicklungsorientierte Bildungsforschung (Reinmann & Sesink) oder die Gestaltungsorientierte Mediendidaktik (Kerres) sehr spannend, also Ansätze, die auch nach einem Anwendung für die Bildungsforschung fragen. Und da bot mir der Vortrag von Cornelia Gräsel nochmals eine andere Perspektive. Der Themenkomplex der Implementationsforschung ist auch für die Erforschung von Medien und deren Auswirkungen zentral, schließlich geht es in meinem Bereich immer auch um die Implementation von Innovation in Form von digitalen Medien in schulische Settings. Obwohl die Fragestellungen hier z.T. anders gelagert sind, gibt es dennoch einige Bezüge. Womit ich meine Schwierigkeiten habe, ist die Forderung nach experimenteller Forschung als Ausgangspunkt von pädagogischen Implementationsprozessen. Ich frage, ob es hier nicht andere Bezüge gäbe. Wenn ich an die Integration von digitalen Medien in Lehr-Lernprozesse denke, so macht man ja meist wenig experimentelle Studien, bevor man diese im Klassenzimmer einsetzt. Es gibt Experimentalforschung hinsichtlich der Frage der Text-, Audio- und Videogestaltung beispielsweise, aber diese ist doch meist zu eng, wenn man die Auswirkungen des Laptops im Schulunterricht untersuchen will. Ebenso erscheint mir der Ansatz insofern verkürzt, weil er sich vor allem der Implementation pädagogischer Trainings, so mein Eindruck, verschrieben hat. Es geht nicht um die auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geschehende Gestaltung von Unterrichtspraxis, sondern meist um die Frage nach der Implementation von Trainings und Programmen. Nichts desto trotz bot mir der Vortrag vertiefte Erkenntnisse und vor allem Reflexionsmöglichkeiten des eigenen Handelns und der eigenen Forschungspraxis.