Qualitätssicherung durch Leistungsvergleiche und Bildungsstandards?

Am Freitag hat Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann, Universität Bielefeld, wiss. Leiter der Laborschule Bielefeld an der Universität Zürich einen Vortrag zu Thema «Qualitätssicherung durch Leistungsvergleiche und Bildungsstandards?
Kritische Anmerkungen zum bildungspolitischen Zeitgeist» gehalten. Wie gewohnt verknüpfte er dabei pädagogisches Wissen mit der systemischen Perspektive auf das politische Handlungsfeld.

Direkt am Anfang warf Prof. Tillmann ausgehend von der aktuellen Tendenz in der Bildungslandschaft die Frage auf, ob Bildungsprozesse überhaupt steuerbar seinen. Im Moment findet ein Paradigmenwechsel von der Input- zur Outputorientierung statt, die im Gegensatz zur bisherigen Hierarchiesteuerung durch die Kultusministerien stehe. Standards gelten im Moment als Lebensretter, als Zauberformel (Zitat Oelkers). Seine Kritik kam mit folgendem Zitat zum Vorschein: «Bildungsprozesse kann man nicht steuern, höchstens segeln».

Illustriert hat er die Veränderungen an der Pisa-Studie. Pisa ist eine Erfassung des IST-Zustandes und kann keinerlei Aussagen über die Ursachen machen und auch nicht als Massnahmenkatalog fungieren. Es ist eine sog. Röntgenaufnahme und kein Handlungsplan. Politiker sind aber von jeher auf schnelle Entscheidungen und Handlungen angewiesen. Eine Wirkungsanalyse benötigt aber Zeit, und die haben Politiker meist nicht. Die Einführung der 7 Handlungsfelder der KMK, die sie nach den Pisa-Ergebnissen mit einer für die KMK unglaublichen Schnelligkeit verabschiedet haben war nach Tillmann die Reaktion, die von der KMK kommen musst, um deren Handlungsabsichten zu verdeutlichen. Die Handlungsfelder sind im Einzelnen:

  • Handlungsfeld 1: Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich
  • Handlungsfeld 2: Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung
  • Handlungsfeld 3: Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung und durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz und des grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge
  • Handlungsfeld 4: Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
  • Handlungsfeld 5: Maßnahme zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage von verbindlichen Standards sowie einer ergebnisorientierten Evaluation
  • Handlungsfeld 6: Maßnahmen zur Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf die diagnostische und methodische Kompetenz als Bestandteil systematischer Schulentwicklung
  • Handlungsfeld 7: Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen

Das Ziel von Bildungsstandards war es, den Erwerb von Basisqualifikationen (vor allem fachliche Kompetenzen) der Schülerinnen und Schülern zu erhöhen. Abgeleitet wurde diese Massnahme vor allem von ausländischen Studien.
Die 7 Handlungsfelder machen keine Aussage über zu ändernde Strukturen, und keine Aussagen zur Selektivität des Schulsystems. Von der Umsetzung der meisten Handlungsfelder hört man sehr wenig, die grösste Umsetzung hat das Handlungsfeld 5 erfahren.
Erstaunlich ist zum einen, dass es das Handlungsfeld 5 (Bildungsstandards) in allen 16 Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland gibt. Zum zweiten ist die Schnelligkeit der Umsetzung erstaunlich. Im Gegensatz zur Lehrerschaft war die Stimmung in der Öffentlichkeit auf die Bildungsstandards durchweg positiv.
Doch nun zur Kritik am Handlungsfeld No. 5:

  1. Dominanz der Standardentwicklung: Erstaunlicherweise hat sich die KMK sehr schnell für jedes der drei bzw. vier Fächer Bildungsstandards entwickelt. Allerdings gibt es keine Vielfalt, und Lehr-Lerngelegenheiten, die durch die Entwicklung von Standards intendiert waren, kommen viel zu kurz. Bei der jetzigen Umsetzung von Standards handelt es sich um eine reine Meßangelegenheit, ohne die Chancen der Förderung (vor allem schwächerer Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Die meisten der zentralen Prüfungen finden auch noch an neuralgischen Übergangspunkten in der Bildungsbiografie statt und werden zum Teil dazu benutzt, die Selektion zu legitimieren. Die hohe Popularität der Standardentwicklung führt Tillmann auf die im Vergleich mit anderen Massnahmen geringeren Kosten zurück.
  2. Abschlussbezogene Regelstandards statt Mindeststandards: in der Klieme-Kommission wurde ausdrücklich a) die Einführung von Mindeststandards und b) eine Unabhängigkeit von Phasen der Selektionsentscheidung (also nach der 4., 9. und 10. Klasse) empfohlen. Beide Punkte wurden nicht umgesetzt. Die Bildungsstandards sollten eigentlich Lernprozesse fördern und Selektion verhindern, statt Leistungen zu beurteilen. Von dieser Forderung ist wenig übrig geblieben.
  3. Reduktion auf vier Fächer (Deutsch, Mathematik, erste Fremdsprache und Naturwissenschaft): dieser pädagogische Reduktionismus ist vor allem aus bildungstheoretischer Sicht ein sehr enger Bereich an Kompetenzen. Zudem stehen Leistungsanforderungen im Vordergrund, die drohen, zu einer alleinigen Bewertungsmassnahme von schulischer Arbeit zu werden, und somit ausserschulisches Engagement und auch überfachliche Kompetenzen völlig vernachlässigen.

Zusammenfassend kam Tillmann nochmals auf seine eingangs gestellte Frage zurück: Kann man Bildungssysteme steuern? Seine Antwort darauf lautet: JEIN:
Mit Standards werden verschiedene Erwartungen geweckt: Durch diese sollen die Kernpunkte des Faches, sog. Basiskompetenzen gesichert werden, über die jede Schülerin und jeder Schüler verfügen sollte. Leistungen können somit vergleichbar bewertet werden und Ausgangspunkt für Schul- und Unterrichtsentwicklung sein, zur Reflexion der eigenen Praxis dienen. Dies ist allerdings abhängig von den Strukturen an den Schulen: steht eher ein Coaching und eine Förderung im Vordergrund, oder geht es um die Umsetzung direktiver Massnahmen durch die Standardisierung. Somit können Standards in der Bildung Chance und Risiko sein, je nach Ausrichtung und Massnahme.

Ich bin ein wenig zwiegespalten zwischen einerseits der Kritik an der Standardisierung von Bildung, auf der anderen Seite der Legitimation schulischer Freiheit, damit keine/r zurückbleibt. Für die Offenheit der Schulen und der relativen Unabhängigkeit von den Kultusministerien müssen als einzige Legitimationskontrolle Standards stehen, die jede Schule erreichen muss, um die Qualität von Bildung zu sichern. Allerdings birgt die Reduktion auf drei oder vier Fächer meines erachtens nach Risiken, vor allem beim zugrundelegen eines ganzheitlichen Bildungsbegriffs und auch vor dem Hintergrund des Erwerbs von sog. überfachlichen Kompetenzen.