Bildungsphilosophin für einen Tag

Gestern war ich wieder einmal in Augsburg. Für das letzte Treffen der Doktoranden in diesem Semester hatte sich Gabi etwas ganz besonderes einfallen lassen: Jede(r) von uns las ein Kapitel aus dem Handbuch Bildungsforschung von Tippelt (hier das Inhaltsverzeichnis). Danach sollte folgendes stattfinden:

Je zwei der Doktoranden führen in Form eines Rollenspiels ein Streitgespräch, wobei ein Dritter im Bedarfsfall moderierend tätig wird. Es wird drei Streitgespräche geben: (1) zwischen einem Vertreter der erziehungswissenschaftlichen und der psychologischen Bildungsforschung, (2) zwischen der sozilogischen und der historischen Bildungsforschung und (3) zwischen der Bildungsökonomie und der philosophischen Bildungsforschung. …) Jedes Streitgespräch dauert ca. 20 min – daran schließt sich dann eine allgemeine Diskussion von 30 min an.

Die Texte waren schnell verteilt, und so sassen wir gestern im Streitgespräch. Ich muss sagen, es war für mich eines der interessantesten und erkenntnisreichsten Treffen. Ich hatte mir den Text «Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie» von Yvonne Ehrenspeck rausgesucht und war so im Streit mit der Ökonomie, vertreten durch Sandra. Es wurde ein sehr lebhaftes und spannendes Streitgespräch 🙂 Dabei fiel es mir nicht so schwer, mich in meine Rolle hineinzuversetzen, andere hatten da manchmal mehr Probleme. Aber es wurde (zumindest mir) stark klar, mit welchen unterschiedlichen Brillen man auf den Begriff der Bildung schauen kann. Jede dieser Disziplinen geht es um Bildung, aber letztlich versteht jeder etwas anderes darunter. Das ist nun keine neue Erkenntnis, hilft aber, sich ab und zu wieder im Raum (und sowohl der wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskussion) zu verorten. Vor allem mein Beitrag war insofern für mich spannend, da Ehrenspeck davon ausgeht, dass der Begriff der Bildung mit Absicht so offen und unbestimmt ist. Eine genaue Bestimmung des Begriffes kommt dann immer auf den Kontext an. Oder um es Luhmann-like zu sagen: Das Leerwerden des Begriffes fördert seine Weiterverwendung. Das bedeutet aber in einem zweiten Schritt auch, das Bildung nicht operationalisierbar ist und somit in ihrem umfassenden Sinne nicht empirisch untersuchbar ist. Und dies wiederum hat eigentlich für mich auch Auswirkungen auf die bisherige sog. empirische Bildungsforschung, vor allem im Bereich der Psychologie. Denn strenggenommen ist dies für mich keine Bildungsforschung, sondern eher Lernforschung, Sozialisationsforschung oder etwas ähnliches. Aber die Komplexität von Bildung (auf die ja auch neben den Philosophen auch die Pädagogen und Erziehungswissenschaftler hinweisen), ist nicht mit einzelnen Tests und der Untersuchung am Individuum fassbar.

Alles in allem führte mir diese Sitzung wieder einmal vor Augen, wie starr doch Disziplingrenzen sind und wie viel Auswirkungen sie auch auf den Untersuchungsgegenstand haben. Vermeintlich alle sprechen von Bildung. Doch blickt man einmal genauer hin, werden grosse Unterschiede sichtbar. So wirken sich Epistemologien sowie Methoden und Untersuchungseinheiten auch auf das Thema aus. Da kann man noch so viel von Inter- oder Transdisziplinarität reden: wenn man nicht die eigene „Denke“ reflektiert und sich auch in andere Denkweisen hineinversetzen kann, wird es nichts. Und diesen Blick über die eigene „Denke“-Grenze haben wir sehr eindrucksvoll in den Rollenspielen erhalten.

Nachtrag:

Für alle, die es interessiert, hier meine Concept Map des Artikels (Anklicken zum Vergrössern):

bildungstheorie-concept-map

Comments

Hi Mandy,

vielen Dank für die spannende Zusammenfassung. Fand unsere Diskussion auch sehr fruchtbar, obwohl ich mich zumindest teilweise von meiner Rolle klar distanzieren muss… wobei: Wir könnten nochmals über die Funktion des Staates im Bildungswesen sprechen 😉

Liebe Grüße,

Sandra

Hallo Mandy! Nach der Lektüre Deines Posts neige ich fast dazu zu bitten, nicht „nur für einen Tag“ den bildungsphilosophischen Tellerrand beschnuppert zu haben. 🙂 Danke für Deinen kritischen Blick auf das empirisch Leist- und Machbare, wenn es um Bildungsprozesse und Bildungsverständnisse geht. Und wirklich schade ist ja, dass die Streitgespräche nicht primär nacherlebbar sind. Doch andererseits wären bei latent öffentlicher Aufmerksamkeit die Verläufe in ihrem Ergebnis anders geworden.

Sodenn
Andreas

Ich hoffe, dass es im Text deutlich geworden ist: wir mussten eine Rolle vertreten, das bedeutet nicht, dass wir den Texten bedingungslos zustimmten. Ich denke, viele hatten da mehr Probleme, auch die Argumentation des Wissenschaftszweiges zu vertreten, da dieser nicht unbedingt der eigenen Meinung entsprach. Aber genau das fand ich spannend.
Und: die Rolle des Staates *aaaarrrghhhhh* … vielleicht sollte ich da nochmals in der politischen Philosophie blättern 😉

Liebe Mandy, die Concept-Map ist ja super! Kann ich die mal für ein Seminar verwenden? Ich Internetausdruckerin.
Viele Grüße,
Annabell

Liebe Annabell

Klar, kein Problem. Freut mich, wenn es auch anderen nützt.

Liebe Grüsse
Mandy

Da kann ich Annabell nur zustimmen. Deine Concept Map ist schön ausfürlich aber dennoch übersichtlich.

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