Katerstimmung im Web 2.0?

Liegt es an den Neujahrsvorsätzen, am Zeitgeist, oder an meiner Perspektive: ich habe das Gefühl, es ist ganz schöne Katerstimmung im Web 2.0. Die ersten kündigen ihren Web 2.0 Selbstmord mit der Web 2.0 Suicide Maschine an, die Websiten und Berichte von Aussteigern vermehren sich, ich bekomme Mail von Personen, die mir wieder ihre „richtige“ Mailadresse ankündigen, da sie demnächst nicht mehr im Web 2.0 verfügbar sind, Videos wie dieses entstehen ebenso wie das Slow-Media Manifest , die ZEIT ruft die Muße wieder ins Bewusstsein- und selbst ich habe meinen Twitter Account und Netnewswire entrümpelt. Was ist los? Haben alle wie ich den Schirrmacher über die Feiertage gelesen? Oder ist der Peak erreicht, und es kann nur noch nach unten gehen?Kommt nach dem Hype nun die Depression? Nachdem einige Studien bescheinigt haben, dass die aktive Beteiligung im Web 2.0 doch eher die Minderheit ist – löschen jetzt alle passiven ihren Account? Mitnichten, denn was ich bisher mitkriege, sind es durchaus Leute, die vorher sehr aktiv waren. Ist Web 2.0 nun als gescheiterter Versuch anzusehen, partizipativ Dinge zu gestalten?

Fakt ist: Web 2.0 bedeutet Vernetzung, Beschleunigung und Informationsvielfalt. Eigentlich ist es doch ganz klar: viele Personen können nun schnell und ohne Aufwand Websiten, Blogs, YouTube Videos oder Podcasts erstellen, also steigt auch die Anzahl der Produkte – die Informationsvielfalt oder auch die Informationsflut sind eigentlich normale Randerscheinungen des Phänomens. Und damit wächst auch das Problem der Beurteilung der Information, was unter Umständen viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Doch das Phänomen ist nicht neu (auch für mich nicht). Ich habe mal kurz recherchiert, wann ich hier schon einmal, wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen das Thema behandelt habe:

Nun also wieder: alle stöhnen unter der Informationsflut und die Zeit, die das Web 2.0 ihnen klaut (wenn man mal so nachliest, was als Begründung für den Ausstieg angegeben wird). Gibt es nun also wirklich ein neuer Stress, was vorher der Stress durch Weblogs war, ist nun Stress, ausgelöst durch Facebook und Twitter? Oder betrifft es doch ein grundlegendes Problem?

Nun glaube ich nicht, dass alle plötzlich den Schirrmacher gelesen haben, aber ich denke, das Web 2.0 entwächst seinen Kinderschuhen. War es gestern und heute noch hype und modern, einen Account auf Facebook, Twitter oder sonst wo zu haben, möglichst viel zu bloggen oder möglichst viele RSS Abonements zu haben, fangen nun viele Menschen an, ihren Alltag mit Web 2.0 Medien zu reflektieren, vielleicht weil sie auch merken, dass sie weniger Zeit haben, Dinge nicht fertig tun können und eigentlich immer auf der Suche nach neuer Information sind. Ich muss Schirrmacher zustimmen, es ist ein Leben auf Abruf nach der neuesten, wichtigsten Information, sei es aus dem privaten Netzwerk, sei es aus dem beruflichen Umfeld – besonders an Universitäten, wo die erste Idee eigentlich immer noch zählt. Auch wenn es bei Schirrmacher an manchen Dingen auch mir zuviel wurde, was ich schätze, sind drei Sachen:

Zum einen sein Hinweis darauf, was wir eigentlich schon an routinierten Verhaltensweisen im Netz übernommen haben, ohne gross darüber nachzudenken und die Konsequenzen abzuschätzen. Wie viele Skripts wir eigentlich auch online entwickelt haben, die uns scheinbar unbewusst lenken. Zum Zweiten die Darstellung der engen Verknüpfung und Verkettung der Maschinen und der Realität und die Frage des freien Willens – ein Thema, das mich immer mehr fasziniert. Ich habe ja schon Latour an dieser Stelle sehr spannend gefunden (siehe Blogbeitrag), und auch bei Schirrmacher erfährt man spannende Details.

Und zum Schluss seine Einschätzung, dass wir nicht mehr zurück können. Was bringt es, Dienste im Web 2.0 zu kündigen oder Mails nicht mehr zu lesen? Die Medien sind nunmal da und verfügbar, und oft leisten sie ja auch gute Dienste. Es ist wie mit jedem Medium: der Benefit hängt von der Nutzung ab. Und genau diese Nutzung und Kompetenz gilt es, zu erlangen, oder uns wieder darauf zu besinnen. Und von daher finde ich es sehr gelungen, dass Schirrmacher sein Buch mit dem Kapitel „Die Zukunft der Bildung“ abschliesst. Hier entwickelt er einige Gedanken, wie sich das Bildungssystem ändern muss, um mit der jetzigen Informationstechnologie Schritt zu halten: zuerst einmal ein anderes Lehren und Lernen, weg von Informationsvermittlung, hin zu Sinn und vor allem dem Lernen von Unsicherheiten und Heuristiken. Computer sind nicht mehr nur Maschinen wie Fernseher, sondern beherbergen eine Informationswelt, die sehr reale Auswirkungen auf uns und unsere Umwelt hat. Lernen muss mit Bedeutung versehen werden, an Vorwissen angeknüpft werden, usw. – für Pädagogen und Didaktiker keine neuen Erkenntnisse.

„Schulen müssen Computer als Instrumente integrieren, die Schüler nicht nur benutzen, sondern über die sie nachdenken müssen. Sie müssen erkennen lernen, dass die verführerische Sprache der Algorithmen nur Instrmente sind, dafür da, um Menschen Denken und Kreativität zu ermöglichen“ (S. 218)

Und hier komm ich nochmals auf die Eingangsbeobachtung zurück: vielleicht haben wir auch bisher die Technologien eher genutzt, als darüber nachgedacht. Und vielleicht ist die Katerstimmung nur ein Ausdruck des Nachdenkens und der Reflexion des Web 2.0 – und zu welcher Antwort man für sich selber kommt, das bleibt jedem selbst überlassen. Für mich jedenfalls gilt: Informationen ausgedünnt, den eigenen Informationsumgang nochmals reflektiert komme ich zu dem Ergebnis: ich steige nicht aus, aus dem Web 2.0, aber versuche, Tools reflektierter zu nutzen, denn Quantität bedeutet nicht automatisch Qualität ;-).

Comments

Hallo Mandy

Aussteigen vom Web 2.0 und Social Web. Auch ich habe mir im vergangenen Jahr vermehrt die Frage gestellt, ob sich meine Aktivitäten in meinen 4 Fachblogs, Wikism Twitter, 3 Networks, u.a. zeitlich mit meinen übrigen Verpflichtungen in Beruf und Familie vereinbaren lassen. Oft kam ich an Grenzen meiner Ressourcen. Ich habe aber nun gelernt, dass ich nicht ständig immer und überall alle Web 2.0-Aktivitäten verfolgen muss. Habe auch schon mal den Mut, Ungelesenes aus meinem RSS-Feedreader zu löschen. Ich versuche mich nun vermehrt an einem Tag auf eine Sache zu konzentrieren; diesen Informations- und Kommunikationskanal intensiv zu nutzen und die übrigen Medien ruhen zu lassen. Ich denke, dass ich es allmählich für mich geschafft habe, die Web 2.0-Tools mit Mehrwert zu nutzen; im Wissen darum, dass mein Kanäle nicht immer up-to-date seon müssen. Das neue Jahr hat mir also persönlich – trotz Lektüre von Schirrmacher – neue Motivation und Energie gegeben! Ãœbrigens finde die deine Beschreibung zur „Katerstimmung im Web 2.0“ sehr treffen – es trennt sich die Spreu vom Weizen.

Gruss Martin

Hallo Mandy,
die digitale Informationswelle wird immer größer. Das ist nicht nur ein subjektives Phänomen. Beispiele? Ich produziere digital Musik und poste diese auf Websites diverser Communities (Soundcloud, looperman, magix). In der letzten Zeit werde ich durch diese Communities und deren Musikteilgruppen von Musikpräsentationen regelrecht überschüttet. Ein möglicher Grund: Jeder kann mehr oder weniger leicht (je nach Vorkenntnissen und technischer Ausstattung) eine Musikperformance erstellen und ohne irgendwelche Barrieren online präsentieren. Das ist echt klasse, aber wie soll ich die richtig guten herausfiltern, wenn ich jeden Tag 10 Tracks zugemailt bekomme, und ich nur Zeit für 4 habe? Ich selektiere anhand der Namen der Künstler und der Tracks. Eine subjektive und höchst ineffiziente Vorgehensweise, aber: Ich arbeite dran.
Liebe Grüße Karsten

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